Der Text zur Ausstellung: Sabine Weier



Ein anderer Blick: Die Psychologisierung urbaner Räume im Werk von Nina Fandler


In den vergangenen 20 Jahren hat die Malerei eine wahre Renaissance erfahren. In den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern hatten Künstler diese traditionelle Kunstform zugunsten von Aktionskunst, Videokunst, Installation und anderen neuen Kunstformen regelrecht links liegen lassen. Heute boomt die Malerei mehr denn je. Zur Berlin Art Week 2013 wurde die Malerei groß in Szene gesetzt, unter dem Titel Painting Forever! sind derzeit gleich in vier großen Berliner Kunsthäusern Ausstellungen zur zeitgenössischen Malerei zu sehen. Die Positionen sind ganz unterschiedlich. Auffällig ist aber, dass die Figur im engeren Sinne, nämlich der Mensch, heute wieder das beliebteste Sujet ist. Schon im April 2006 hatte eine Ausstellung in München diesen Umstand gefeiert, sie hieß Zurück zur Figur – Malerei der Gegenwart. Zu sehen waren über 80 Positionen aus der ganzen Welt. Die Schau sei als Reaktion auf den figurativen Malerei-Boom der Gegenwart entstanden, hieß es in der Einleitung zum Katalog.
Die Künstlerin Nina Fandler schwimmt mit dem Strom. Schon im Studium an der Kunstakademie Düsseldorf hatte sie sich auf die gegenständliche Malerei festgelegt und ihren Kurs konsequent verfolgt. In über zehn Jahren hat sie ein erstaunlich konsistentes Werk geschaffen. Aber Fandler schwimmt auch gegen den Strom, denn ihre Leinwände sind meist menschenleer. In früheren Arbeiten tauchen ab und an Menschen auf. Sie sitzen etwa in einer Flughafenhalle oder in einer Straßenbahn, sind aber vielmehr Teil einer dargestellten Umgebung. Manchmal sind Menschen auf Fandlers Leinwänden auch nur in Form eines Schattens anwesend, der von außen hinein in die Szene geworfen wird. Auf den Werken, die jetzt in ihrer Ausstellung Vertigo Vertiko zu sehen sind, finden menschliche Figuren nur als Abbilder von Abbildern auf die Leinwand: Sie begegnen dem Betrachter in einer Leuchtreklame, einer Schaufenster-Beklebung oder als steinerne Skulptur an einer Fassade. Oder regelrecht versteckt, wie in dem Außenfahrstuhl auf dem Gemälde mit dem Titel Apollo Optik.
Fandlers Sujet ist die Stadt. Ihre Protagonisten sind Schaufenster, Leuchtreklamen, Fassaden, Balkone, Rolltreppen, Straßenbahnen, Reklametafeln, Flugzeuge – Elemente urbaner Räume also. Die Motive sind gefunden und gleichzeitig erfunden. Fandler nutzt fotografische Vorlagen, entwickelt sie aber weiter, indem sie etwa verschiedene vorgefundene Motive kombiniert. Und sie erweitert sie um imaginäre Elemente, zum Beispiel um den Schattenwurf des Außenfahrstuhls in Apollo Optik. Gleichmäßig von links und rechts scheinen zwei Lichtquellen den Fahrstuhl so zu beleuchten, dass diese recht unwahrscheinliche Konstellation zweier Schatten entstehen kann. Die Lichtquellen und die Schatten hat es so nie gegeben. Diese Verquickung von realistisch-illusionistischen und fantastischen Elementen kann man auch als Aussage darüber verstehen, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen: subjektiv. Fandler porträtiert eben nicht eine Welt des Seins, sondern vor allem eine des Scheins.

Lichtspiele, Schatten und subjektive Farbwelten
Die Künstlerin hat ein Wortspiel zum Titel ihrer Potsdamer Ausstellung gemacht. Vertigo Vertiko bringt zwei ganz unterschiedliche Bilder vor dem inneren Auge zusammen. Da ist zum einen das Vertiko, ein dekoratives Möbelstück, ein Zierschrank mit Schublade und Fächern, der als Behältnis dient und hinter einer schönen Oberfläche etwas verbirgt. Oberflächen spielen auf Fandlers großformatigen Leinwänden eine tragende Rolle: Auf ihnen inszeniert sie Lichtspiele, Schatten und subjektive Farbwelten. Was sich dahinter verbirgt, hinter Fenstern, Türen und Mauern, deutet Fandler höchstens an. Wer genau hinschaut, kann Entdeckungen machen. Auf den Gemälden Insomnie Joyeuse und Hans herum kann der Betrachter durch eine gläserne Oberfläche hindurch recht viel entdecken: einen Innenraum, ein Treppenhaus, Palmen. Doch es ist letztlich seine Sache, oder vielmehr Sache seiner Vorstellungskraft, die Schubladen und Fächer zu füllen. Zum anderen ist da die Vertigo, also das Schwindelgefühl, das sich zum Beispiel einstellt, wenn man aus der Höhe in einen Abgrund schaut. Der Terminus ist vielen sicher aus Hitchcocks berühmtem gleichnamigem Film bekannt. Der Protagonist Scottie hat Höhenangst, Hitchcock hat Scotties Wahrnehmung meisterhaft mit der Kamera inszeniert. Es stellt sich eine Irritation der Sicht ein, der Abgrund scheint immer tiefer zu werden, alles gerät in Bewegung. Die Grenzen zwischen Sein und Schein verwischen, ähnlich ist das bei Fandlers Werken auch.
Fandler hat zu einer ganz eigenen Bildsprache gefunden. Der US-amerikanische Kunsthistoriker David Galloway beschrieb sie in der New York Times als „Industrial Baroque“, damit nahm er Bezug auf die Opulenz der Darstellung, die urbanen Motive und das charakterstarke Kolorit. Fandlers Bildsprache speist sich aus mehr als 150 Jahren Kunstgeschichte. Auffällig ist die Nähe zu Impressionismus und Expressionismus. Aber auch zur Malerei der Pop Art lassen sich Bezüge herstellen. Die Künstlerin greift etwa Motive aus der Konsumwelt auf, lässt durch Schaufenster auf seriell hergestellte Produkte blicken, wie auf die Lampen von Gretchen oder die Gitarren von Leftbop. In einer früheren Arbeit hat sie etwa einen Süßigkeitenautomaten dargestellt und eine ganze Werkserie mit Gemälden von Fahrzeugen wie PKWs und Straßenbahnen geschaffen. Dann finden sich Zitate aus der gestalterischen Moderne, aus Design und Architektur, etwa die geometrischen Formen und rote, blaue und gelbe Farbflächen, die uns in Form der Balkone bei Vertigo begegnen oder in Form von Buntglaselementen bei Insomnie Joyeuse und Hans herum.
 
Überbleibsel einer vergangenen Euphorie
Außerordentlich groß ist die Bedeutung von Licht in Fandlers Werk. Wie einst die Impressionisten schafft sie atmosphärische Ansichten voller flirrender Farbflächen, mit denen sie Spiegelungen, Reflektionen, Lichtstimmungen und Schatten darstellt. Licht ist auch bei ihr nicht nur notwendige Voraussetzung des Sehens und Malens oder dramaturgisches Mittel, sondern vor allem Sujet. Welche Lichter sich bei ihr treffen, bleibt unaufgelöst, die Lichtquelle befindet sich meist außerhalb der Leinwand. Doch möglich ist vieles, neben Sonne und Mond natürlich vor allem die Lichter der Stadt, von Straßenlaternen, Autos und Bussen, Reklame-Installationen. Sie reize die malerische Aussicht, dass Licht die Körperlichkeit transzendiere, wie es sich als darstellende Ebene in das Geschehen füge, sagt Fandler. Auch die Impressionisten brachten im 19. Jahrhundert auf die Leinwand, was ihnen bei Streifzügen durch sie Stadt begegnete, damals natürlich in Paris. Gustave Caillebotte etwa malte Brücken, Dächer, öffentliche Plätze und Spiegelungen im Wasser der Seine oder auf den Oberflächen nasser Pflastersteine. Städte wuchsen damals im Zuge der Industrialisierung zu Millionenstädten heran, Paris wurde umgestaltet, die neue urbane Umwelt stand für ein neues Lebensgefühl. Sein Werk war wie auch das anderer Maler des Impressionismus durch das neue Medium Fotografie beeinflusst worden. Auch die frühen Fotografen hielten Aspekte der Stadt mit der Kamera fest. Der fotografische Blick fand sich bald auch auf Leinwänden wieder. Motive wurden plötzlich stark angeschnitten.
Auch bei Fandler ist das der Fall. Die Künstlerin nimmt häufig eine fotografische Perspektive ein und schneidet ihre Motive links, rechts, oben und unten an. Der Blick auf die Dinge, die sie zeigt, unterscheidet sich aber vom Blick eines Flaneurs, der ihn beiläufig durch die Straßen schweifen lässt. Fandler zwingt ihre nahezu maßstabsgetreu gemalten Motive in einen engen Rahmen, und sie zwingt den Betrachter regelrecht, mit dem Blick auf dem zu verweilen, was sie ausgewählt hat. Sie setzt profane, gestrig wirkende Stadtaspekte großformatig in Szene, und vermittelt damit ein zeitgenössisches Erlebnis von städtischen Räumen: Ein schaler Beigeschmack mengt sich da rein, Architekturen, mit denen man einst die Moderne feierte, und Schaufenster, die einem verheißungsvollen Wohlstand als Bühne dienten, wirken wie Überbleibsel einer vergangenen Euphorie.

Wie sehen wir?
Spiegelungen in Fenstern, auf Glasscheiben und Fassaden sind so etwas wie Fandlers Markenzeichen. Es entsteht ein paradoxes Phänomen: Auf den präsentierten Oberflächen spiegelt sich etwas, das sich gegenüber befindet, also etwas, das sich auf der anderen Seite der Leinwand befinden muss, dort, wo auch der Betrachter steht. Augenscheinlich ist das bei Gretchen, der Darstellung des Schaufensters eines Lampenladens. Durch die Spiegelung ergeben sich mehrere Motivschichten, die sich überlagern und ineinander greifen und den Blick irritieren. Bäume, Häuserreihen und die Straße werden bei längerem Hinsehen schemenhaft sichtbar. So entsteht eine besondere Bildtiefe, die durchaus ein solches Schwindelgefühl mimen könnte, das Scottie in Hitchcocks Vertigo empfindet. Fandler überträgt es auf die Leinwand.
Der Mensch ist in Fandlers Gemälden nur vermeintlich abwesend. Er ist in Form seines Blicks anwesend. Denn Fassaden und Schaufenster werden bei Fandler zur Projektionsfläche, Innenleben und Außenleben verbinden sich zu etwas Neuem dazwischen. Woody Allen hat diesen Mechanismus für seinen Film Interiors aus dem Jahr 1978 genutzt. Er spiegelt Befindlichkeiten und psychologische Grundstimmungen der Figuren in den Interieurs ihrer Wohnungen und Häuser. Fandler psychologisiert ihre Sujets, „Exteriors“ wenn man so will, mit expressiven Farbaufträgen, kräftigen Blau-, Rot-, Gelb- und Grüntönen, dramatischen Licht- und Schattenspielen. Ähnlich gingen die Expressionisten vor. Auf Leinwänden und auch im Film verarbeiteten sie so das Erlebnis Großstadt und den wankenden Gemütszustand des modernen Menschen, „Vertigo“ hätte als Bezeichnung für die expressionistische Gefühlswelt durchaus gepasst. Fandler fragt mit ihren Gemälden danach, wie wir sehen. Ihre Antwort lautet: Wir sehen alle anders, wir sehen ein bisschen so, wie wir uns fühlen, und ein bisschen so, wie unsere Umgebung es vorgibt.

Momentaufnahmen im Zeitraffer
Im Rahmen von Vertigo Vertiko präsentiert Nina Fandler auch zwei Stop-Motion-Filmarbeiten. Dafür hat sie Fotografien zusammengefügt, die zu verschiedenen Zeiten entstanden sind und nun im Loop hintereinander projiziert werden. Wie in vielen ihrer Gemälde, auf denen sich Vergangenes und Gegenwärtiges begegnet und flüchtige Licht- und Schattenspiele eingefangen sind, greift Fandler in ihren Filmarbeiten auch das Thema Zeit auf, um es mediumspezifisch zu inszenieren: Film entsteht ja erst durch die Aneinanderreihung von Bildern in einer chronologischen Abfolge. Fandler rafft die Zeit: Schnell ziehen die Momentaufnahmen am Betrachter vorbei, während die Motive zeigen, dass Wochen und Jahre vergehen. Der Mensch steht hier nun sichtbar im Mittelpunkt. Da ist das Baby im Stillfilm, das an der Brust der Mutter saugt und wächst und gedeiht. Und da ist das Tanzlehrer-Paar in Atomiseur, das auf Gruppenfotos von Abschlussbällen aus fast drei Jahrzehnten, den Jahren zwischen 1956 und 1982, inmitten immer neuer junger Schüler sitzt und zusehends altert. Die Körperhaltung des Tanzlehrers bleibt über die Jahre hinweg gleich, der Anzug schwarz, nur sein Gesicht verändert sich. Um ihn herum scheinen seine Schüler zu tanzen. Begleitet von Tanzmusik und in immer neuen, den Jahrzehnten modisch entsprechenden Outfits schnellt das Ensemble durch die Jahre. 
Text zur Ausstellung Vertigo Vertiko mit Werken von Nina Fandler in der Villa Opolka Potsdam,  verfasst von Sabine Weier